20.
Januar 2016: Zeitzeugenbuch als Höhepunkt
10. Februar 2016: „Rechts und links
brannten die Häuser“
10. Mai 2016: „Da war Esch
ein Fahnenmeer“
01. August 2016: „Dass ich überlebt habe, ist ein
Wunder“
14. Oktober 2016: „Dann gehört Euer Haus mir!“
14. Dezember 2016: „Schlägertrupps bleiben in
Erinnerung“
Idsteiner
Reservistenhalten Rückschau und haben auch 2016 viel vor
Traditionell am dritten Sonntag im Januar lädt die
Reservistenkameradschaft (RK) Idstein zu ihrem Neujahrsempfang ein. Neben
Mitgliedern der RK waren in diesem Jahr der Erste Kreisbeigeordnete Heinz
Juhnke und der Idsteiner Stadtrat Felix Hartmann sowie Vertreter befreundeter
Kameradschaften und Hilfsorganisationen der Einladung gefolgt.
Der Vorsitzende der RK Idstein, Oberfeldwebel d. R. Andreas Heidler, konnte auf ein erfolgreiches Jahr 2015
zurückblicken. Höhepunkt des vergangenen Jahres sei die Präsentation des
Zeitzeugenbuches „Ich war dabei“ im Idsteiner Gerberhaus gewesen. Überhaupt hätten
sich in den vergangenen Jahren die Zeitzeugenabende der Idsteiner Reservisten
zu einer festen und stets gut besuchten Veranstaltungsreihe entwickelt. Auch
die Pflege des Kriegsgräberfriedhofs in Idstein, die Sammlung für den Volksbund
Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die Teilnahme am Volkstrauertag seien feste
Termine im Terminkalender der Reservistenkameradschaft und sollen es auch 2016
wieder sein. Neben diesen Veranstaltungen werde es 2016 auch wieder eine
Familienfahrt geben, die Anfang Juni zu den Schlachtfeldern des Ersten
Weltkrieges in die Umgebung der französischen Stadt Verdun führen wird.
Der Erste Kreisbeigeordnete Heinz Juhnke verband seine
Neujahrsgrüße, die er stellvertretend für Landrat Burkhard Albers überbrachte,
mit dem Dank an die Bundeswehr, die im Rahmen der Flüchtlingsarbeit Ende 2015
auch im Rheingaus-Taunus-Kreis eingesetzt war – unter anderem mit vielen
Reservisten. Er richtete seinen Blick aber auch auf die große Politik. „Nach
der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges dachten wir alle, dass
wir nur noch von Freunden umgeben seien – eine Konsequenz war die Verkleinerung
der Bundeswehr. Dass wir heute – 25 Jahre danach – die Bundeswehr im Rahmen von
Auslandseinsätzen mehr denn je brauchen würden, hätten wir damals auch nicht
gedacht.“
Würdigende Grußworte
In Vertretung des Idsteiner Bürgermeisters Christian Herfurth überbrachte Stadtrat Felix Hartmann Grüße. Durch
seine Mitgliedschaft in der RK hat Hartmann auch eine persönliche Beziehung zu
den Reservisten, was in seinen Grußworten deutlich wurde. Besonders hob er hier
die Kameradschaft hervor, die ihn selbst in seiner Bundeswehrzeit stark prägte.
„Die Stadt Idstein ist stolz auf die RK Idstein, auf ihre Leistungen und
Beiträge für die Gesellschaft. Ganz besonders die Zeitzeugenabende und das
Zeitzeugenbuch sind ein wichtiger Beitrag zur Vergangenheitserarbeitung.“
Nach weiteren Grußworten der befreundeten Kameradschaften und
Organisationen wurden vier Mitglieder der RK Idstein für ihre langjährigen
Mitgliedschaften geehrt: Stabsfeldwebel a. D. Volker Kraft (zehn Jahre),
Obergefreiter d. R. Peter Born (20 Jahre), Oberstabsfeldwebel d. R. Klaus
Bücher (40 Jahre) und Oberleutnant d. R. Ulfert
Nägele (50 Jahre).
„Rechts
und links brannten die Häuser“
Zeitzeuge Manfred Voll zu
Gast bei den Idsteiner Reservisten
Die Zeitzeugenabende der Idsteiner Reservisten starteten ins
Jahr 2016 mit einem Bericht des 80-jährigen Manfred Voll, der am 22. Mai 1935
in Berlin-Wedding geboren wurde. Sein Vater Heinrich kam aus Völkershausen/Rhön in Thüringen 1928 nach Berlin. Seine Mutter
Käthe, geborene Unterspann, wurde in Königsberg/Ostpreußen geboren, kam aber
schon früh nach Berlin und war bis kurz vor der Hochzeit am 30. September 1933
zuerst im Auswärtigen Amt und später im Reichsministerium für Volksaufklärung
und Propaganda als Büroangestellte beschäftigt.
Jüdische Nachbarn
Den Beginn des Krieges erlebte Manfred Voll in Berlin, die
Menschen jubelten. Als die deutschen Truppen nach dem Sieg über Frankreich zum
Brandenburger Tor marschierten, stand er mit seinem Vater am Straßenrand. Es
wurden Fähnchen verteilt. „Ich war enttäuscht, weil ich keine Hakenkreuzfahne
bekam.“ 1941 stand seine Einschulung bevor. Am 25. August 1941 flog die
britische Luftwaffe erste schwere Angriffe auf Berlin. „Unsere Einschulung fand
am 1. September in der Turnhalle statt, weil die ersten Toten bei uns in der
Aula aufgebahrt waren. Ganz in der Nähe unserer Schule, am Nordhafen waren die
Bomben eingeschlagen und hatten das Vorderhaus zum Einsturz gebracht. Wir
besichtigten mit meiner Mutter die beschädigten Häuser und sammelten
Granatsplitter.“ Volls Großvater hat 1912 ein
Mietshaus gebaut, in dem er mit seinen Eltern wohnte. Im Seitenflügel wohnte
Familie Salzenbrodt. „Im Jahr 1941 oder 1942 besuchte
Frau Salzenbrodt meine Mutter. Sie saß weinend in der
Küche, weil sie einen Judenstern tragen musste. Als am Abend mein Vater von der
Arbeit kam, erzählte meine Mutter von dem Besuch und es gab einen großen Krach.
Dass meine Mutter als Frau eines Partei-Mitglieds, die Jüdin in die Wohnung
gelassen hat, war zu dieser Zeit mehr als gefährlich.“
Als die Bombenangriffe auf Berlin immer schlimmer wurden,
brachte Volls Vater die Familie nach Thüringen ins
Haus der Großeltern. Seine Mutter versuchte immer wieder nach Berlin
zurückzukehren, die Eltern litten unter der Trennung. Der Vater holte die
Familie mit dem Zug aus Thüringen ab. „Schon die Fahrt war der Horror. Als wir
ankamen, hatten die Alliierten gerade einen Angriff geflogen. Rechts und links
brannten in Berlin die Häuser und der Zug fuhr durch diese Hölle, es war
furchtbar! Wir spürten im Zug die Hitze, überall schrien die Menschen.“
Eroberung des Dorfes
Anfang 1945 war die Familie wieder in Thüringen und erlebte
die Eroberung des Dorfes Völkershausen durch die
Amerikaner. Das Hitlerbild aus der Gaststube und Hakenkreuzfahnen wurden
schnell entfernt. Die Truppen waren schon auf dem Dorfplatz, als Volls Großvater die weiße Fahne hissen wollte. „Die
Offiziere wohnten bei uns im Haus. Es gab keine Probleme, wir haben immer
zusammen gegessen. Nach dem Krieg arbeitete Voll für einen
Druckmaschinenhersteller. Sein Arbeitsweg führte ihn mehrere Jahre nach
Südamerika, bis er schließlich zur Firma Kalle nach Wiesbaden kam. Heute
verbringt er seinen Ruhestand mit seiner Frau in Bechtheim.
„Da war Esch ein Fahnenmeer“
Zeitzeuge Helmut Wald
berichtet von seinen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus
Viele Gäste hatten wieder den Weg zum mittlerweile 40.
Zeitzeugenabend der Reservistenkameradschaft Idstein gefunden. Gast war der
1932 geborene Escher Helmut Wald. Mit knapp sechs Jahren kam er 1938 in die
Grundschule in Esch, mit zehn wechselte er im Sommer
1942 zur Mittelschule nach Idstein.
Mit dem Rad zur Schule
Neben dem Schulwechsel nach Idstein gab es für Helmut Wald
1942 noch ein weiteres besonderes Ereignis: die Aufnahme in das Jungvolk. Als
sogenannter „Pimpf“ trug man schwarze Hose, Braunhemd, Halstuch mit
geflochtenem Lederknoten, Koppel, Fahrtenmesser und Schulterriemen. Es gab
Geländespiele für die Jungvolk-Züge aus Idstein und den umliegenden Dörfern.
„Dabei wurden üblicherweise die Idsteiner Sieger“, bekannte Helmut Wald
schmunzelnd. Als Pimpf hatte man aber auch Dienst zu leisten. „Dann
marschierten wir durchs Dorf hinter einem Fahnenträger mit seinem schwarzen
Wimpel her. Der Zugführer kommandierte: ,Ein Lied‘,
und wir sangen die damals üblichen Lieder.“
„Wir waren aus Esch zu sechst,
davon fuhren vier mit dem Fahrrad. Ich lief zunächst mit einem weiteren Escher
bei Wind und Wetter im Herbst und Winter bis Frühjahr 1943 meistens bei
Dunkelheit nach Idstein. Heute wäre das für Zehnjährige wohl nicht mehr
denkbar. Ab Frühjahr 1943 hatte ich dann ein Fahrrad.“ Seine frühesten
Erinnerungen an die Zeit im Dritten Reich stammen von den letzten
Reichstagswahlen im April 1938: Da war Esch ein
Fahnenmeer – aus allen Häusern hingen Hakenkreuzfahnen. „Aus unserer Dachgaube
hing an einer langen Fahnenstange ebenfalls eine Fahne über der Straße.“
Dann kam der Krieg. Bei Bürgerversammlungen während des
Krieges im Saalbau „Zur Krone“ erschienen viele Männer in Uniform – „darunter
natürlich auch der Bürgermeister. Er und sein Adlatus, jeweils braun
uniformiert mit großen Schirmmützen auf dem Kopf, marschierten in den Saal
ein“. Zum Abschluss der Veranstaltungen nach einem dreifachen „Sieg Heil“ wurde
dann immer das Deutschlandlied gesungen und an dessen Ende sofort weiter „Die
Fahne hoch“.
Eingesperrt und bewacht
Nach dem Frankreichfeldzug im Sommer 1940 kamen französische
Kriegsgefangene nach Esch, die den Landwirten bei der
Feldarbeit halfen. Nachts wurden sie in eine gemeinsame Unterkunft in einem
Saal eingeschlossen, wo sie auch bewacht wurden. „Auf dem Hof meines Großvaters
waren nacheinander zwei französische Soldaten tätig – Gaston und Louis. Später
kam noch eine Polin namens Wanda.“
In den letzten beiden Kriegsjahren musste Helmut Wald auf dem
Nachhauseweg von Idstein sehr auf die Jagdflieger aufpassen und immerzu
geeignete Deckung im Blick haben. „Gleich hinter dem Idsteiner Judenfriedhof
waren Splittergräben in die Böschung gegraben. Mehrmals haben wir die Räder
hingeschmissen und sind in diese Zick-Zack-Gräben gerannt. Dort war es relativ
sicher und man konnte die Jagdbomber beobachten, die über den Feldern am
Tiergarten eine Schleife drehten und dann Richtung Eisenbahn losjagten, um
Ziele am Bahnhof oder auf der Bahnstrecke bis Wörsdorf
zu beschießen.“ Immer wieder gab es auch Abstürze oder Abschüsse. Besonders
erinnert Wald sich an einen alliierten Bomber, der 1943 nachts im Tiefflug mit lautem Geräusch über Esch
hinwegraste und am Ortsrand von Würges ins Feld
stürzte. Anderntags ist er mit einigen Freunden mit dem Fahrrad nach Würges gefahren, um sich die Trümmer anzuschauen. „Offenbar
waren alle Bomberinsassen umgekommen. Erbaulich war das nicht. Ich erinnere
mich, dass einer tot in seiner Heck-Kanzel eingeklemmt war. Die übrigen lagen –
teilweise abgedeckt – auf dem Gelände.“
Schließlich kam das Kriegsende. In den Wirren der letzten
Kriegstage 1945 machten ausländische Zwangsarbeiter die Gegend unsicher.
„Zusammengezogen aus der ganzen Gegend haben sie in der Idsteiner Bauschule
gehaust. Eine Meute überfiel zweimal die außerhalb von Esch
liegende Hirtese-Mühle.“ Im März 1945 kamen dann die
Amerikaner von Idstein her und vor allem aus Richtung Limburg über die heutige
B 8. „Das war eine Riesenkolonne mit Panzern und Lkws jeder Größe.“ In Esch selbst gab es keine Kampfhandlungen.
„Dass ich
überlebt habe, ist ein Wunder““
Zeitzeugen-Abend mit
Herbert Weber
Bei dem jüngsten Zeitzeugen-Abend der
Reservistenkameradschaft Idstein ließ Herbert Weber seine bewegende
Lebensgeschichte Revue passieren.
Seine 90 Jahre merkt man dem am 9. Juli 1926 geborenen
Zeitzeugen aus Görsroth nicht an. „Ich kam als
Frühchen mit nur zwei Kilo Gewicht auf die Welt. Dass ich überlebt habe, ist
ein Wunder, keiner hätte gedacht, dass ich mal 90 werde. Mein Vater führte in
Wiesbaden ein Feinkostgeschäft. An politische Dinge aus meiner Kindheit
erinnere ich mich kaum. Am Ring gab es oft Fackelzüge, die ich interessiert
anschaute. Und dann gab es auch oft Prügeleien zwischen Kommunisten und der SA.
Aber an mehr erinnere ich mich nicht.“
1933 wurde Weber eingeschult, 1936 kam er als sogenannter
„Pimpf“ zum Deutschen Jungvolk. Später kam er zur Hitlerjugend – zur
sogenannten Flieger-HJ. Anschließend ging es zur kaufmännischen Lehre nach
Kassel – schließlich wollte er einmal das väterliche Geschäft übernehmen. Von
dort musste er zum Reichsarbeitsdienst (RAD) nach Fritzlar – 30 Kilometer von
Kassel entfernt. Dann kam der 22. Oktober 1943. Am Nachmittag dieses Tages
starteten 569 Bomber in England und erreichten gegen 20.45 Uhr Kassel. Rund
7000 Menschen kamen bei diesem Angriff ums Leben. Herbert Weber wurde mit
seinen Kameraden nach Kassel in Marsch gesetzt, um bei den Aufräumarbeiten zu
unterstützen. Mit Atemschutzmasken arbeiteten sie in der Altstadt und
schaufelten Schutt weg.
„Die Straßen waren weich wie Pudding“
„Wir konnten immer nur kurz arbeiten, dann mussten wir Pause
machen. Alles war noch heiß, die Straßen waren weich wie Pudding. An einem Tag
haben wir pausenlos Tote aus einem Luftschutzkeller geholt. Die waren dort erstickt.
Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“
Im Januar 1944 wurde er aus dem RAD entlassen. Ende Mai kam
dann der Gestellungsbefehl. So ging es für Herbert Weber über Trier nach Tulle in Frankreich zur Ausbildung und im August ging es in
den Einsatz – zuerst per Bahn, dann zu Fuß und schließlich mit dem Pferdewagen
bis nach Belfort. Dann fuhr man mit einem Lkw Richtung Front. Es ging in ein
Waldstück, von dessen Rand die Gruppe auf ein Dorf blicken konnte. „Alle 50
Meter stand ein amerikanischer Panzer und die Amis sprangen durch das Dorf.“ Am
nächsten Morgen hatten die Amerikaner die Gruppe eingekesselt. Als die Amis
dann kamen, haben Weber und seine Kameraden sich ergeben. Per Frachtschiff ging
es von Südfrankreich nach Norfolk in den USA. Den Gefangenen wurde eine Glatze
geschoren. Sie wurden in Holzhäusern mit jeweils zwei Schlafsälen á 25
Schlafplätzen untergebracht. Tagsüber wurden die Gefangenen zur Baumwoll-Ernte
eingesetzt. Dann kam das Kriegsende. Irgendwann ging es heim nach Europa. Statt
nach Deutschland ging es nach England, wo Weber von 1946 bis 1948 noch einmal
arbeiten musste. 1948 ging es endlich nach Hamburg und von dort nach Wiesbaden.
Vom Hauptbahnhof fuhr er mit dem Bus zur Ringkirche, wo das elterliche Geschäft
war. „Ich habe mich irgendwie nicht getraut, nach Hause zu gehen. Ich saß auf
meinem Seesack und habe eine Zigarette nach der anderen geraucht.“
Später übernahm Herbert Weber den Laden des Vaters –
„Feinkost-Weber am Ring“. Diesen führte er bis zu seinem Ruhestand. Heute
verbringt er seinen Lebensabend in Görsroth.
„Dann
gehört Euer Haus mir!“
Zeitzeugin Margarete Heitbrede spricht bei den Idsteiner Reservisten über die
Flucht aus ihrer ostböhmischen Heimat
An den Krieg hat die 1939 im ostböhmischen Zwittau geborene Margarete Heitbrede
kaum Erinnerungen – wohl aber an die Vertreibung im Jahr 1946. Jetzt berichtete
sie beim Zeitzeugen-Abend der Idsteiner Reservisten von ihren Erfahrungen.
„Wenn man als Kind so etwas miterlebt, prägt das sehr.“ Sie musste mit ihrer
Mutter und den Großeltern mütterlicherseits den Heimatort Pohler
südlich des heute in Tschechien gelegenen Zwittau
verlassen – der Vater war noch in Gefangenschaft. „Eines Tages kam eine
Tschechin zu meiner Mutter und mir. Sie sagte: In zwei Wochen komme ich, dann
gehört das Haus mir!“ Sie packten alles zusammen und zogen in den Nachbarort zu
den Großeltern.
Von dort ging es mit einem Leiterwagen nach Zwittau. Hier kamen sie in ein Lager, in dem die Familie
wiederum zwei Wochen blieb. „Dann machten wir uns auf den Weg. Mein Großvater
war Schreiner und hatte große Kisten gemacht, in denen wir all unsere Habe
verstauen konnten. Wir konnten wirklich viel mitnehmen.“ Von Zwittau fuhr Margarete Heitbrede
mit Mutter und Großeltern in einem Güterzug Richtung Westen. „Unterwegs hielten
wir immer wieder an Stationen, an denen wir verpflegt wurden. Da ich noch klein
war, konnte ich im Güterwagon oben am vergitterten Fenster sitzen.“
In einem winzigen Zimmer ohne Ofen untergebracht
Mit dem Zug ging es dann bis nach Hahn, von dort zu Fuß
weiter bis nach Bleidenstadt. „Hier wurden wir in
einem großen Saal auf Feldbetten untergebracht. Nach zwei Wochen wurden wir
schließlich in Privatquartiere verteilt. Mutter und ich bekamen ein winziges
Zimmer ohne Ofen zugeteilt.“ In Bleidenstadt wurde
sie auch eingeschult – viele Flüchtlingskinder waren in der Klasse. „Ich habe
nur gute Erinnerungen an die Schulzeit. Wir Flüchtlingskinder wurden von den
anderen Kindern herzlich aufgenommen. Nirgends spürten wir dort Ablehnung.“ Der
Vater wurde zu dieser Zeit in der Ostzone aus der Gefangenschaft entlassen.
„Der Bürgermeister in Bleidenstadt hätte eine
Zuzugsgenehmigung ausstellen müssen. Dann hätte mein Vater ohne Probleme zu uns
kommen dürfen.“ Doch der Bürgermeister weigerte sich, als die Mutter vorsprach.
„Ich gebe ihnen keine Zuzugsgenehmigung – gehen sie doch dort hin, wo ihr Mann
ist“, war seine Antwort auf ihre Bitte. Aber über Beziehungen gelang es der
Mutter, auf anderem Wege eine Zuzugsgenehmigung zu erhalten. In der
Zwischenzeit war dem Vater mit einem Freund zusammen die Flucht in den Westen
gelungen. Er kam pünktlich zu Weihnachten 1946 in Bleidenstadt
an. „Es war das schönste Weihnachtsfest meines Lebens“, so Margarete Heitbrede unter Tränen. Der Vater brachte ihr ein
Märchenbuch und Zuckerzeug als Christbaumschmuck mit. „Unser Zimmer hatte
gerade einmal zwölf Quadratmeter. Da war nicht viel Platz für den Christbaum.
Tagsüber stellten wir ihn auf das Bett, nachts stand er auf dem Tisch.“
Lebensmittel beim Müller erbettelt
In den schweren Anfangszeiten wurde Margarete Heitbrede immer wieder von ihrer Mutter zur nahe Bleidenstadt gelegenen Stiftsmühle geschickt, um
Lebensmittel zu erbetteln. „Ich habe immer gebetet: Lieber Gott, bitte lass die
Frau Müller da sein. Denn die hat mir immer etwas gegeben. Der Müller selbst
hat nur geschimpft. Dabei war meine Mutter gar nicht wählerisch. Sie nahm alles
dankend, was ich brachte. Andere Flüchtlinge waren da schon anders.“ Nach einem
halben Jahr zog Margarete Heitbrede mit ihren Eltern
in ein größeres Zimmer. Dann kamen sie beim Bauer Diefenbach unter. Hier gab es
eine große Küche, ein Schlafzimmer für die Eltern und ein kleines Kinderzimmer.
Zwischenzeitlich hatte der Vater Arbeit auf dem Hofgut der
Familie Poulet gefunden. Dort lebten viele Kinder. „Immer wenn keine Schule
war, war ich dort. Es war wie ein Paradies.“ Für den Vater war das alles kein
Paradies. Tagsüber arbeitete er auf dem Gut, abends musste er noch Bauer
Diefenbach helfen. Anfang der 1960er Jahre hatte der Vater dann genug gespart,
um in der Stefanstraße bauen zu können. „4,50 D-Mark
kostete damals der Quadratmeter Bauland.“ Bleidenstadt
war zwischenzeitlich für Margarete Heitbrede längst
zur Heimat geworden. „Für meinen Großvater wurde es nie Heimat. Er hat immer
nur gejammert und ist schließlich vor lauter Heimweh an gebrochenem Herzen
gestorben. Die Menschen dachten ja doch wirklich, dass sie wieder zurückkehren
würden in die alte Heimat.“ Doch dies blieb für alle nur ein Wunsch.
„Schlägertrupps
bleiben in Erinnerung“
Karlheinz Bernhard
berichtet bei der Reservistenkameradschaft Idstein von seinen Kriegserlebnissen
Ich bin ein Kind des Taunus“, begann der gebürtige
Wiesbadener Karlheinz Bernhard seinen Bericht vor der Reservistenkameradschaft
Idstein. „Ich kam am 80. Geburtstag des damaligen Reichspräsidenten Paul von
Hindenburg auf die Welt – am 2. Oktober 1927.“ Seine frühesten Erinnerungen
reichen ins Jahr 1933 zurück. „Von der Machtergreifung habe ich in dem Alter
natürlich nichts mitbekommen. Aber an die Schlägertrupps auf den Straßen
erinnere ich mich. Eines Tages war ich mit meiner Mutter auf dem Markt, als sie
plötzlich sagte: ‚Komm schnell, da stehen sie wieder!’ Sie zog mich in einen
Hausflur, dann ging die Prügelei auch schon los – Nazis gegen Kommunisten.“
Nach der 4. Klasse ging es in die Mittelschule. „Mein Rektor
war Peter Kempf, der Vater des späteren Bischofs.“ Gut erinnert sich Bernhard
an die Pogromnacht 1938. „Mein Vater kam nach Hause und sagte: ‚In der Stadt
ist Durcheinander. Die Judenkirche brennt!‘“ Bernhard
lief hin und sah, dass die Kuppel eingestürzt war und brannte. „Ein Mann kam
aus der Bahnhofstraße und rief: ‚Die haben bei denen Gewehre rausgeholt!‘ Das hörte sich für uns natürlich so an, als seien die
Juden bewaffnet gewesen. Später stellte sich heraus, dass es nur Jagdwaffen
waren.“ Dann begann der Krieg, der auch nach Wiesbaden kam. 1942 gab es den
ersten Flächenangriff. Am 18. Mai 1943 wurde Bernhard Luftwaffenhelfer. Im März
1944 wurde er von der Luftwaffe entlassen und trat seinen Dienst beim
Reichsarbeitsdienst (RAD) in Oldenburgisch Birkenfeld an.
„Zuvor hatten wir die Chance, innerhalb einer Woche den
Realschulabschluss nachzuholen. Nicht alle haben diese Chance ergriffen – ich
schon.“ Bei der Verlegung seiner RAD-Einheit nach Thüringen wurde diese von
amerikanischen Thunderbolt-Jagdbombern angegriffen.
„Ich wurde fast getötet. Ich wurde verschüttet, nur mein Kopf schaute noch heraus.“
Im Lazarett wurde Bernhard versorgt. „Besonders schlimm war das Reinigen der
verletzten Hände – das waren Schmerzen!“ Beim Rauchen musste ihm eine Schwester
die Zigarette halten.
Am 29. März 1945 den Amerikanern ergeben
Am 18. November 1944 wurde er aus dem RAD entlassen, am 24.
November meldete er sich beim motorisierten Flugabwehrbataillon 66 in Mainz zum
Dienst. „Motorisiert war leicht übertrieben – es gab nur noch ein Motorrad!“ Am
12. Dezember musste die Einheit außerplanmäßig antreten. „Erst dachten wir, es
sei eine Übung. Doch dann erhielten wir die eiserne Ration – Schmalzfleisch und
Hartbrot – sowie eine Patronentasche mit 60 Schuss
Infanteriemunition. Am 15. Dezember wurden wir verlegt – Richtung Westen. Wie
wir erst später erfuhren, sollten wir die zweite Welle bei der
Ardennenoffensive sein. Als sich dann das Blatt in der Ardennenoffensive
wendete, wurden wir zurückverlegt.“ Über verschiedene Stationen ging es bis
Wallrabenstein. „Auf der Straße nach Wörsdorf haben
uns am 29. März 1945 zwei amerikanische Panzer aufgehalten, denen wir uns
ergeben haben. Mit fünf Kameraden kam ich in Gefangenschaft.“ Nach dem
Aufenthalt in verschiedenen Lagern in Frankreich wurde Karlheinz Bernhard am
18. September aus der Gefangenschaft entlassen.
Bernhard ging nach dem Krieg seinen Weg. Er machte sein
Abitur nach und studierte auf Lehramt. Heute verbringt er seinen Lebensabend in
Idstein, wo er lange Jahre – gemeinsam mit seiner Frau – Lehrer an der
Realschule war.
Reservistenkameradschaft
Idstein spendet 1000 Euro aus Bucherlös an den Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge
Joachim Unruh, Oberst a. D. vom Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge, freut sich. „1000 Euro sind viel Geld. Wir sind auf
Spenden angewiesen. Eine tolle Sache.“ Am Donnerstagabend hatte die
Reservistenkameradschaft Idstein eingeladen.
Oberstleutnant Jörg Fried von den Reservisten hatte die
ehrenvolle Aufgabe, den symbolischen Scheck an Unruh zu überreichen, der
Beauftragter für die Zusammenarbeit der Kriegsgräberfürsorge mit der Bundeswehr
in Hessen ist.
Geschichten von den Zeitzeugenabenden
Das Geld stammt aus dem Erlös des Buches „Wir waren dabei“,
das Fried mit Co-Autor Klaus Bücher, ebenfalls von den Kameraden, produziert
hat. Seit April 2011 veranstaltet die Kameradschaft in unregelmäßigen Abständen
Zeitzeugenabende, an denen Gäste von ihren Erlebnissen vor, nach und während
des Zweiten Weltkrieges berichten. Jörg Fried protokollierte die Erzählungen
und beschloss mit Klaus Bücher, ein Buch daraus zu machen.
29 Berichte von sieben Frauen und sechzehn Männern sind in dem 160 Seiten starken Buch mit dem Titel „Ich war dabei“
zusammengefasst. „Ich habe ein halbes Jahr daran gearbeitet, sagt der
48-jährige Idsteiner Fried. Klaus Bücher kümmerte sich
um Fotos und Dokumentationen. Neben den Berichten der Zeitzeugen enthält das
Buch Anlagen wie Briefe, Dokumente oder einen Tagebuchauszug mit
Kriegserlebnissen ab 1941. „Im November haben wir abzüglich aller Kosten, die
uns entstanden sind, die 1000-Euro-Schwelle überschritten. Es war klar, dass
wir das Geld der Kriegsgräberfürsorge spenden.“
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge widmet sich im
Auftrag der Bundesregierung der Aufgabe, Gräber der deutschen Kriegstoten im
Ausland zu erfassen, zu erhalten und zu pflegen. Er betreut Angehörige in
Fragen der Kriegsgräberfürsorge, berät öffentliche und private Stellen,
unterstützt die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der
Kriegsgräberfürsorge und fördert die Begegnung junger Menschen an den
Ruhestätten der Toten. 70 Prozent der Kosten werden durch Spenden finanziert,
den Rest decken öffentliche Mittel des Bundes und der Länder.
Gegründet wurde die gemeinnützige Organisation am 16.
Dezember 1919 – aus der Not heraus. Die noch junge Reichsregierung war weder
politisch noch wirtschaftlich in der Lage, sich um die Gräber der Gefallenen zu
kümmern. Dies übernahm fortan der Volksbund, der sich als eine vom ganzen Volk
getragene Bürgerinitiative verstand. Nach der politischen Wende in Osteuropa
nahm der Volksbund seine Arbeit auch in den Staaten des einstigen Ostblocks auf,
wo im Zweiten Weltkrieg etwa drei Millionen deutsche Soldaten ums Leben kamen –
mehr als doppelt so viele, wie auf den Kriegsgräberstätten im Westen ruhen.
Viele der über hunderttausend Grablagen sind nur schwer auffindbar, zerstört,
überbaut oder geplündert. Heute werden pro Jahr 30 000 Gefallene identifiziert
und beerdigt.